Originaltitel: Dreyfus. Drama eines Justizirrtums 1930; 115 min.; Regie: Richard Oswald; Darsteller: Fritz Kortner, Grete Mosheim, Heinrich George, Albert Bassermann, Oskar Homolka, Ferdinand Hart, Erwin Kalser, Fritz Rasp, Paul Bildt, Fritz Kampers, Paul Henckels, Ferdinand Bonn, Leopold von Ledebur, Bernard Goetzke, Fritz Alberti, Bruno Ziener; Oswald-Tobis-Film.
Die Vorgeschichte des ersten Dreyfus-Prozeßes, in dem der als Elsässer und Jude unbeliebte, Generalstabsoffizier verurteilt wurde, der Prozeß selbst, die verzweifelten Bemühungen prominentester Persönlichkeiten um die Revision, welcher neue Prozeß dann wieder mit einer Verurteilung endete. Schließlich Dreyfus’ Gnadengesuch und endlich seine völlige Freisprechung durch den Kassationshof…
Zusammenfassung
Nicht allein die französische Nation wurde durch die „Affaire Dreyfus” um die Jahrhundertwende bis in ihre Tiefen erschüttert. Jener klassische, unerhört eklatante Justizirrtum ist zum historischen Menschheitsereignis geworden. Gewiss hat es – solange Menschen richten – Fehlurteile und Rechtsbeugungen gegeben. Aber kein Jusitzskandal ging die gesamte zivilisierte Menschheit im gleichen Make an wie dieser erbitterte, haßerfüllte, leidenschaftliche und edle Kampf um die Schuld oder Unschuld des französischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus. – Im Papierkorb des Militärattaches von Schwartzkoppen, in der deutschen Botschaft in Paris, werden im September 1894 von einer Agentin des französischen Nachrichtendienstes die Fetzen eines Begleitbriefes zu gleichzeitig gelieferten militärischen Mitteilungen gefunden. Kriegsminister Merder sieht voll Entsetzen seinen Posten gefährdet. Er muß den Schuldigen präsentieren, ehe der Skandal in der chauvinistischen Presse anhebt. Er muß es „im Interesse der Armee” tun, so schnell es nur geht. – So wird am 15. Oktober 1894 auf Grund leichtfertiger und konstruierter Indizienbeweise der Jüdische Hauptmann Dreyfus verhaftet, wegen Landesverrats zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt, mit Schimpf und Schande öffentlich degradiert und auf die Teufelsinsel (Französisch-Guayana) deportiert. Über vier Jahre wird er dort in einen 16 qm großen Käfig gesperrt, in Eisen gelegt, als ein „abgefeimter Verbrecher, jeden Mitleids unwürdig.” – Unermüdlich kämpfen unterdessen seine tapfere Frau und sein Bruder Mathieu in Paris gegen eine Welt von Haß und Gemeinheit. Oberst Picquart, der neue Chef des Nachrichtenbüros, findet die ersten Beweise für Dreyfus’ Unschuld. Sein Verdacht fällt auf einen Major Esterhazy. Aber Picquarts Eintreten für den Mann auf der Teufelsinsel ist den Herren im Kriegsministerium und den Generälen außerordentlich unbequem. Die Ehre der Armee erfordert es, daß an dem Urteil nicht gerüttelt wird. Man versetzt Picquart nach Tunis. Der Major Esterhazy wird trotz belastenden Materials unter dem Jubel der militärischen Kamarilla freigesprochen. Nun schreibt Emile Zola sein flammendes „J’accuse”. Georges Clemenceau, der spätere „Tiger”, veröffentlicht es in seinem Blatt „Aurore”. Mit Zolas „J’accuse” beginnt die Welt aufzuhorchen. Sein Ruhm macht die „Affaire Dreyfus” international. Auf Veranlassung des Kriegsministeriums kommt es zum Prozeß Zola, zu Jenen seltsamen und erregenden Schwurgerichtsverhandlungen vom 7. bis 23. Februar 1898. Zola wird verurteilt und flieht nach England, sein Hauptzeuge, der Oberst Picquart, wird verabschiedet, verhaftet und ins Gefängnis gesetzt. – Da gesteht – am 30. August 1898 – der Oberst Henry, in die Enge getrieben, eine Fälschung ein, die allein zu Dreyfus’ Verurteilung führte. Tags darauf schneidet sich dieser Henry im Gefängnis mit einem Rasiermesser den Hals durch. Das schlägt wie eine Bombe ein. Der verhaftete und wieder entlassene Esterhazy flüchtet nach England. Das Urteil gegen Dreyfus wird 1899 aufgehoben, Picquart in Freiheit gesetzt und Dreyfus zu einem neuen Kriegsgerichtsprozeß nach Rennes gebracht. – Aber noch einmal siegt die säbelklirrende Gewalt. Am 9. September 1899 wird Alfred Dreyfus trotz entlastendsten Materials zum zweiten Male verurteilt. Zu 10 Jahren Gefängnis. Als sterbensmüden und gebrochenen Mann begnadigt man ihn kurz darauf. – Volle sechs Jahre dauert es, bis der unschuldig verurteilte Dreyfus rehabilitiert, vom Kassationshof völlig freigesprochen wird. Am 13. Juli 1906 wird er als Major wieder in die Armee eingestellt, Picquart zum General befördert. Wenige Tage später erhält der altgewordene Dreyfus das Kreuz der Ehrenlegion. Als – 15 Jahre nach Dreyfus’ Verhaftung – die Gebeine des toten Kämpfers Zola ins Pantheon übergeführt werden, gibt ein Fanatiker zwei Schüsse auf Dreyfus ab und verwundet ihn. 1914 stirbt Picquart, 1923 Esterhazy mit 77 Jahren. Dreyfus lebt heute noch als 71 Jähriger in Paris.
Kritik (-e-, Film Kurier #194, 08/18/1930):
Der Fall des französischen Hauptmanns Alfred Dreyfus, der – als Elsässer und Jude bei den Generalstabsoffizieren unbeliebt – Opfer eines Justizmordes wurde und erst nach einem Jahrzehnt des Kampfes seine Rehabilitierung erreichen konnte, ist nunmehr von Richard Oswald zum Film verarbeitet worden.
Ein ausgezeichnetes Thema, mit Wirkungen vieler Art: Politisch, durch die immer wieder aktuellen Kämpfe zwischen Aufklärung und Konservativismus; die stets dankbare Dramatisierung eines begangenen staatlichen Unrechts und das Ringen um die Wiedergutmachung. Dazu die menschliche Seite des Falls, das Unglück schuldlos Verfolgter.
Kein Wunder, daß bereits vor Beginn der ersten Vorstellung am Premierentage sämtliche Karten auch für die beiden Abendvorstellungen ausverkauft waren. Der Fall Dreyfus, eine Vergangenheit, weit genug zurückliegend um die Jüngeren als Staatsaktion von vorgestern zu interessieren, aber noch nicht so weit, um vergessen zu sein, ist auch heute noch attraktiv.
Nach dem triumphalen Erfolg von Theaterstück und Buchpublikation bemächtigt sich der Film des Falls. Das Tribunal wird zur Szenenschau. Und für den Film Dreyfus setzt sich eine ganze Legion von guten Schauspielern ein.
Dieses unerschöpfliche Kraftreservoir schafft zusammen mit dem Stoff den Erfolg, der dem Film in jedem Rein treu bleiben durfte.
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Ein Bilderbogen in abwechslungsreicher Folge, so rollt der Lebensfilm des Dreyfus ab. Goldberg und Wendhausen, die Autoren, zeigen ihn: als Familienvater, bei der Verhaftung, während der Degradation (Haupt- und Staats-Szene) auf der Teufelsinsel, vor Gericht und endlich bei der Ehrlichmachung.
Das Zwischendurch des Kolorits geben die kurzen Dialoge der Verschworenen; im Tingeltangel, auf der deutschen Botschaft, im Kriegsministerium.
Das Prinzip von Aufbau und dramatischer Steigerung ist durch ein Mosaik an Miniaturszenen ersetzt. So ergibt es ein buntes Bild und erleichtert zugleich, indem es die Effekte dezentralisiert, die Führung der Schauspieler. Gerade durch seine nüchterne Sachlichkeit und durch den Verzicht auf naheliegendes Pathos wirkt der Film so erschütternd.
Richard Oswald – vom Kameramann Friedel Behn-Grund besser unterstützt als vom Tonaufseher H. Grimm – läßt sie alle, die Darsteller, zur vollen Entfaltung kommen. Es ergibt sich eine verwirrende Fülle ausgezeichneter Einzelleistungen. Allen voran Albert Bassermann und Heinrich George.
Heinrich George ist Zola . . . Menschlich, bis in letzte Einzelheiten ungekünstelt. Er wirkt echt, auch da, wo er als Zitate bekannte Aussprüche zu bringen hat.
Verhaltenheit, Sparsamkeit der Mittel, das sichert diesem George die stärksten Wirkungen. Erst der Sprechfilm hat seine Kräfte frei gemacht, das deutsche Talkie hat keinen zweiten Kerl seines Großformats.
Den Helfer im Streit, Oberst Picquart, gibt Albert Bassermann. Der Grandseigneur der deutschen Sprechbühne hat, mit der Gewinnung des Worts für den Film, die Gelegenheit, den männlichen Charme und die noble Haltung seiner Künstlerpersönlichkeit mit der Eindringlichkeit seiner Sprachgestaltung zu vereinen.
Alfred Dreyfus selbst tritt bot dem Aufgebot seiner Helfer naturgemäß in den Untergrund. Trotzdem gibt ihm Fritz Kortner manchen fein herausgeholten Einzelzug. Allein schon in der Körper-Antithese, mit dem er die Wandlungsstufen aufzeigt: Als Offizier, ahnungslos, ungläubig; ein etwas kurzsichtiger Normalmensch. Dann, in der Deportationszeit, gedunsen, gealtert; hernach, bei der Rehabilitierung von erbitterter Gestrafftheit.
Die andern im Ensemble: Erwin Kaiser, Fritz Kampers, Ferdinand Bonn, Leopold von Ledebur, Paul Bildt, Oscar Homolka, Paul Henkels, Fritz Alberti, sie alle setzen ihr ganzes Können ein. Auch Grete Mosheim tut es als Lucie Dreyfus; ihr war der Tonmixer wenig günstig gesinnt, so wirkt sie in bildhaftem Leiden.
Neu als Sprechspieler, doch ebenso bewährt wie zur stummen Zeit: Fritz Rasp, Ferdinand Hart, Bernhard Goetzke. (Ist’s nicht erst gestern gewesen, daß die neue Kunst des Mikrophonsprechens ihre Ansprüche geltend machte ? Und heute schon ist die Beherrschung des Worts, die Tonmeisterung nichts weniger als ein Monopol.)
Die Arbeit der Architekten Franz Schroedter und Hermann Warm ist von ausschlaggebender Bedeutung. Ihre andeutenden Bauten geben Raumstimmung; erst ihre Fähigkeit, kurze Dialogscenen durch den Hintergrund des Bildes in der Charakteristik zu präzisieren unterstützt den Gesamteindruck wesentlich.
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Der Beginn des Films brachte als Neuerung endlich die an dieser Stelle wiederholt ausgesprochene Anregung: An Stelle des Vorspanns ertönte eine Stimme: „Richard Oswalds Dreyfus.“
Daß diese Ankündigung durchaus genügt, da das Werk ja für sich selbst spricht, bewies der stürmische Beifall am Schluß.