Enemy in the Blood

Originaltitel: Feind im Blut. Aufklärungsfilm 1931; 76 min.; Regie: Walter Ruttmann; Darsteller: Ruth Albu, Wolfgang Klein, Margarete Kupfer, Ilse Stobrawa, Harry Berber, Wilhelm Lüdeke; Praesens-Tobis-Klangfilm.

Weder ein Spielfilm mit Aufklärungs-Tendenz noch ein medizinischer Lehrfilm, bringt das vorliegende Werk ein Mosaik von Skizzen, Episoden, klinischen Aufnahmen, statistischem Material. Zeigt die Brutstätten der Geschlechterkrankheiten, deren verherrende Auswirkung im Beruf und Familie. Ärztliche Beratung, Behandlungsmethoden, Heilung.

Zusammenfassung
Columbus, Entdeckung Amerikas, von dorther: Einschleppung der Lustseuche nach Spanien und dann Weitertragen durch spanische Söldner. 1495 erstes Auftreten in Neapel und starke Ausbreitung der Syphilis in ganz Europa durch die heimkehrenden Söldner. Jahrhunderte lang herrschte vollkommene Ratlosigkeit dieser Krankheit gegenüber, bis es endlich Pionieren der Wissenschaft – Pasteur, Metschnikoff, Neisser, Schaudinn, Ehrlich – nach jahrzehntelanger Arbeit gelang, die Erreger und wirksame Heilmittel zu finden, allmählich auch statistische Angaben über die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten. 1916 Verbreitung der Geschlechtskrankheiten durch die heimkehrenden Soldaten bis in das entlegenste Dorf. Diese beinahe schlimmste aller Seuchen greift täglich um sich – geht in die Familien hinein – kommt von überall her – ihre Folgen verbreiten sich schnell – vergiften den ganzen Menschen. Aus diesen folgenschweren Weltgeschehnissen entwickelt sich in diesem Film eine Reihe von Einzelschicksalen.Ein Student und sein älterer Freund.Der Student ist bei seiner Freundin Lili, die er in aller Eile verläßt, da die Vorlesung in der Universität bereits angefangen hat. Mit Verspätung kommt er in das Auditorium, wo der Professor gerade einen Vortrag über Syphilis, Primäreffekt und zweites Studium hält. Nach dem Kolleg will er Lili abholen und erfährt durch Zufall, daß seinem Freund auf einen Bummel mitnehmen. – In rasch aufeinander folgenden Bildern zeigt der Film, welchen Einfluß der Alkohol auf die beiden ausübt. Sie gehen von einem Lokal ins endete und landen beim Morgengrauen in einer Kneipe, aus der der Reisende mit der Kaschemmen-Kellnerin, sehr animiert, verschwindet. Der Student geht allein nach Hause. Die Wege des Studenten und des Reisenden kreuzen sich noch einmal in einer Klinik. Der Student, eine Furch sich bei seiner Freundin infiziert zu haben, läßt sich untersuchen. Er ist erkrankt. Der Freund erfährt, daß er sich bei der Kellnerin angesteckt hat.Ein Mechaniker.Ein Vorarbeiter in einer Fabrik. Er hat seine Krankheit vernachlässigt, sich von einem „Wunderarzt“ behandeln lassen. Furchtbar rächt sich der Leichtsinn. Die glückliche Ehe wird durch die Geburt eines kranken Kindes zerstört. Die Frau sucht Erlösung im freiwilligen Tod. Wie durch ein Wunder wird das Kind gerettet. Dank der Kunst der Ärzte werden Vater und Kind gesund.Eine verheiratete Frau: Beim Tanz lernt sie einen jungen Mann kennen; heiß entzündet sich die Leidenschaft – und – auch sie muß einen Arzt aufsuchen.Viele Schicksale streift der Film, um schließlich in Bildern gesunder Lebensbjahung die Wege zum gesunden Leben zu zeigen.

Kritik (E. J., Film Kurier #090, 04/18/1931):
Dieser Film dient dem Volks-Wohl (und der Film-Kunst); er nimmt in der Reihe der Werke, die über die Geschlechtskrankheiten Aufklärung verbreiten, eine Sonderstellung ein.
Sie ist Walter Ruttmann zu danken.
Er gibt nicht Wissenschaft, sondern Leben, er enthüllt nicht Theorie, sondern Dasein, er demonstriert Menschen und nicht Paradigmen.

Die „Praesens“-Film, von vorurteilsfreien und liberalen Menschen geführt, brachte mit „Frauennot und Frauenglück“ ein ganz besonderes Bild. Primitiv und doch den Kern treffend, mit der erschütternden Wahrhaftigkeit einer banalen Geschichte und dem lautlosen Mechanismus der Heilkunde gegenüber dem Pfuschertum.
Primitiv kann Ruttmann nicht sein und „ein Drama“ (er flucht noch immer der Spiel-Film-Dramaturgie und ihren meist verlogenen Baurezepten) liegt ihm nicht.
Kaum einer ist ja (ja, ja, ja) dem Film-Wesentlichen so nahe, wie dieser lange, unbändige Mann, der auch nicht ohne Krach, ohne Revolte filmen kann. Und wenn dieser Film auch weder eine „Tonfilm-Symphonie“, noch ein populärdoktrinäres Werk (wie Ufa-Kulturfilme), noch ein Spielfilm-Reißer à la Brieux noch ein proletarisch-tendenziöser Russenfilm, sondern nichts mehr und nichts weniger als eben eine Ruttmann-Paraphrase über ein vorgeschriebenes Thema wurde – – so preist man die Firma, die den Auftrag gab, so bewundert man Ruttmanns erweiterte Könnerschaft, die den Ton filmisch zum Bilde zwingt, ohne Bild, Bewegung, Ding, Maschine, Mensch zu vergewaltigen (sondern sie immer in Einheit haltend: unter einer Zwangs-Idee und Zwangsvorstellung).
Man ruft’s allen Zünftigen ins Ohr: für die Tonfilm-Entwicklung zeigt dieser Tonfilm Wichtigeres als für . . . die Volksaufklärung. Die Methode steht hier vor der Materie. Ruttmanns Formgesinnung feiert (mit diesem Auftrags-Werk) einen Triumph.
Für Ruttmann, für den Tonfilm. Und warum?

Was tragt er nicht alles auf den einen Film-Streifen!
Erst historische Titelbelehrung. Dann Episoden von der Lust und der Lustseuche der Kreatur. Aus Stimmungen, Erscheinungen, Tag- und Nachtwandel bilden sich Dramolette, der Student und sein Freund, der Arbeiter und sein Kind, leicht geschürzte Begebenheit – aber in welche wahrhaftige Umwelt gestellt!
Hörsaal, Klinik, Aerzteberatungskabinen, Laboratorien und Krankenhäuser – die Mittelpunkte dabei. Belehrung über Tripper, Syphilis, Krankheitssymptome, Stadien und Behandlungsart in schlagenden Fällen, knapp, deutlich, vorbildlich. Man erlebt ein Dutzend Konsultationen mit. Kein Lehr-Regisseur erhebt den Zeigefinger, keine Warnungsmoral, kein Pastorenpathos klingeln dazwischen.
Der Film spricht über Ernsthaftes von Mensch zu Mensch; ein Künstler ist der Mittler vor der Kamera: ein Künstler, der zwischen den Menschen steht . ., dem es heute auch gleichwertig ist, ob der Kommunist oder der Spießer, die Nutte oder die Hebamme da vor ihm existieren.
Man hat den Schreiber dieses oft Ruttmanie vorgeworfen; es sei wiederholt; wenn nicht alle Zeichen trügen, steht hinter dieser Arbeit (in seinen echtesten Teilen) Deutschlands stärkste Tonfilm-Begabung. Der kraftvollste, blickrichtigste Lebenseinfänger. Tragisch, wenn Rutmann ein exterritorialer Romantiker bleiben sollte. Ein A-part-Mann, ein Sonderling, ein Meschuggener (ein Trotzköpfchen).
Mir geht er weit über Piscator, weit über Pabst und die Avantgardeoffiziere. Weil er filmt und nicht literadelt.
Branche, geh’ zu diesem in die Tonfilm-Kur. (Ruttmanie?)
Ruttmanie? Vielleicht . . . müßte man Ruttmann vor Ruttmann schützen.

Ueber das Leben, trotz Syphilis und Tripper, steht viel in diesem Film.
Es „braust“ nicht filmmäßig, es geschieht so hin . . . Lokomotiven, Tanzkapellen, kleine Mädels. Injektionsspritzen – jedes Ding zeigt seine Dienlichkeit.
Regisseur, Kameramann, Tonmeister, Darsteller – scheint es in diesem Film so wenig zu geben wie ein lieber Gott hinter unserem Leben ticktackt (und es bewegt sich doch).
Eine Parade der Selbstverständlichkeiten ist wahrzunehmen; die Arbeiter an ihren Gestaltungen, unspielerisch echt: die Ilse Stobrawa. Albu, Kupfer (herrlich, herrlich) Walewskaja, Gmür, Braxis, Kraußbauer – die Männer: Bienert, (!!) Berber, Bernhardt, Klein, Krauß usw. – alle die Techniker, begonnen mit Wolfgang Zeller, dem Komponisten; den Kameraleuten Stilianudis, Berna; den Ton-Könnern: Metain und Bittmann . . . . hingehn, selbst erleben! Und den Ruttmann gepufft, geknufft, gestoßen in den Ruhm, den er verdient.
Ein beispiellos bedeutsamer Film (weil alles Film-Erreichte gleichsam im Nebenbei des Gebrauchszwecks geboten) – – und der Ruttmann, der Trottel, weiß noch nicht einmal, was er da wieder geschaffen hat! Denn er ließ seinen Namen aus im Vorspann . . . dieser lange Trottel (Wahrung berechtigter Interessen!) – dieser Künstler!

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