
Originaltitel: Der Mörder Dimitri Karamasoff. Kriminaldrama 1931; 93 min.; Regie: Fedor Aleksandrovich Ot︠s︡ep; Darsteller: Fritz Kortner, Anna Sten, Fritz Rasp, Bernhard Minetti, Hanna Waag, Max Pohl, Fritz Alberti; Terra-Tobis-Klangfilm.
Dimitri Karamasoff, Offizier der zaristischen Armee, will seinen Vater vor der Mißehe mit einem Luderchen bewahren, fällt diesem selbst anheim, droht schließlich, seinen Erzeuger zu töten. Man findet diesen tot auf. Der Bruder des Offiziers entlarvt einen Diener als Mörder, der aber vor der Aussage Selbstmord begeht. Das Urteil: Sibirien. Das Mädchen folgt dem Offizier dorthin.
Zusammenfassung
Dimitri Karamasoff fährt aus Moskau in seine Heimatstadt, um von seinem Vater die Auszahlung des mütterlichen Erbteils zu erbitten. Er will das Geld als Kaution bei seinem Regiment hinterlegen, um heiraten zu können. Dimitri verspricht seiner Braut Katja, in drei Tagen wieder bei ihr zu sein.
Der Vater hat jedoch für Dimitris Anliegen weder Zeit noch Interesse. Er ist Gruschenka, einer stadtbekannten Dirne, völlig verfallen, und trägt sich sogar mit der Absicht, sie zu heiraten. Dimitri beschließt, das Mädchen selbst aufzusuchen und mit ihr zu sprechen, um die unheilvolle Verbindung mit seinem Vater zu verhindern. Aber da er Gruschenka kennenlernt, erliegt er selbst ihrem Zauber.
Da Dimitri zu dem besprochenen Termin nicht zurückgekehrt ist, fährt Katja ihm nach. Ihr Erscheinen bringt ihn zur Besinnung und er verspricht seiner Braut, sogleich mit ihr nach Moskau zu reisen.
Aber ehe er diese Absicht ausführt, erfährt er von dem Diener Smerdjakoff, daß Gruschenka seinem Vater versprochen habe, den Abend bei ihm zu verbringen. Dimitri gerät in maßlose Erregung. Er vergißt seine Braut und die bevorstehende Abreise. Vergeblich erwartet ihn Katja auf dem Bahnhof . . .
Um zu erfahren, ob Gruschenka bei dem Alten ist, klopft Dimitri abends dreimal an das Fenster. Es ist das verabredete Klopfzeichen zwischen Gruschenka und dem Alten. Smerdjakoff hat es ihm verraten.
Der Alte öffnet das Fenster und versucht, Gruschenka in der Dunkelheit zu erspähen. Dimitris Faust umklammert einen Ziegelstein . . . Der Mond verschwindet hinter den Wolken, – ein Schrei durchdringt die Nacht . . . Dimitri läuft durch den Garten, den Ziegelstein in der Hand. Da stellt sich ihm Grigori, der ältere Diener Karamasoffis, in den Weg. „Vatermörder!“ schreit er ihm entgegen.
Dimitri steht vor Gericht. Eine Reihe von Indizien und Zeugenaussagen, vor allem die Aussage Smerdjakoffs belasten ihn schwer.
Aber in seinem Bruder Iwan erwachen Zweifel an den Aussagen Smerdjakoffs. Er eilt zu ihm und findet Smerdjakoff mit einer Schlinge in der Hand. Er will sich erhängen und bekennt Iwan, daß nicht Dimitri, sondern er den Alten erschlagen habe. Iwan veranlaßt Smerdjakoff, sofort mit ihm zu Gericht zu kommen, um dort seine Aussage zu wiederholen. Als Iwan dem Gericht mitteilt, daß Smerdjakoff der Mörder sei und draußen im Zeugenzimmer warte, geht ein befreites Aufatmen durch die Menge. Der Vorsitzende befiehlt, Smerdjakoff hereinzuholen. Aber der Gerichtsdiener überbringt mit verzerrtem Gesicht eine Schreckensbotschaft: Smerdjakoff hat sich im Zeugenzimmer am Querbalken erhängt.
Dimitri wird zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Gruschenka folgt ihm dorthin.
Kritik (E. J., Film Kurier #032, 02/07/1931):
Vieles ist in diesem Film köstlich – immer da wo er der Natur nahe kommt und – F. M. Dostojewski.
★
Fedor Ozeps Natur – das heißt hier stummes Widerspiel von Wolke, trüber Sonne, Mond, entlaubtem kahlen Strauchgeäst, Regentropfen im Herbst; Natur wie Raum, wie Ding, wie Requisit – –
– – da hängen vertropfende, züngelnde
Kronenleuchter zwischen tanzenden Zigeunern, auf Billardkugeln, unstet wie die Spieler um sie, blickt die Kamera, gespenstisch wehen Gardinen aus offenem Fenster in die Sturmnacht, Uhrenspiele drehen sich dazwischen – –
– – Groteske Menschen huschen in verzerrten Spiegeln der Klubs, der Kneipen vorbei, Madonnenbild leuchtet auf, Symbole sturen Zarentums über einem Gerichtssaal, Signale, Fahrtsignale – – hoch aufgezogen am Schluß des Films: es geht in ein Land des „Glücks“, . . . nach Sibirien.
Diesen Tonfilm begleiten stumme Bilder in jeder Szenenauflösung und das ist sein vorzüglichster Reiz.
Und diese stummen, inhaltsvollen, vielsagenden Bilder wiederum unterstreicht – Musik. Eine nicht minder hervorragende, die besten Traditionen der Illustrationstechnik zusammenfassende Begleitung von Dr. Karol Rathaus. Wie herrlich unvergeßlich: im Wartesaal stumm eine wartende Frau, fast unbeweglich . . . und der Erwartete kommt nicht …
Stummfilmkunst Ozeps und die Musik Rathaus’ bilden die Wertelemente dieser Nach-Dichtung, die darin an die volkstümlichsten Russenfilme der mittleren Linie („selbe Paß“, oder den deutsch-russischen „leitenden Leichnam“ Pudowkins) heranreicht. Ja, selbst zu Dostojewski-Bezirken andringt. Obwohl . . .
. . . „Dostojewski“ eben unverfilmbar ist.
Die Autoren Leonhard Frank, Fedor Ozep und Victor Trivas brechen aus seinem größten umfangreichsten Roman-Drama, den „Brüdern Karamasow“ (die Eck-Figur aus der Laokoongruppe sozusagen) den Bruder Dimitri heraus (Aljoscha fällt fort. Iwan kaum angedeutet, der Mörder Smerdjakoff ohne Beziehung), sie stellen den Dimitri isoliert in sein vielszeniges, bunt-tragisches Drama.
Ein Stationenspiel in Tolstoischem Individualismus wird daraus.
★
In einem Zwei-Stunden-Film-Epos läßt sich nicht ein Zipfelchen des russischen Gestalter-Genies einfangen. Sprecht nicht von Dostojewski bei diesem Film. Er war kein Unterhaltungsschriftsteller.
Das Unglück aller Verfilmungen: auch die Autoren kamen nicht vom Original los, hier nicht aus Dostojewskis Schatten heraus, der riesige Roman bedrückt sie, sie lehnen sich an und fabulieren sich nicht so frei, daß das Publikum nur aus dem Film alle Zusammenhänge, alle Motive errät. Mit anderen Worten: den psychologischen Kommentar zum Film müßte man doch bei Dostojewski nachlesen; ja selbst äußere Vorgänge. Wer versteht das mit der Erbschaft, der Kaution und dem Hin und Her der Gruschenka?
Verzeichnet und darum erschwerend vor allem der alte Karamasoff, der im Film ein alberner, geiler, alter Herr ist.
Wäre es hier nicht erlaubt gewesen – man verzeihe meine „filmmäßige“ Einstellung – Kortner den alten und den jungen Karamasoff spielen zu lassen, ihm, dessen herrlicher Zar unvergeßlich ist (oft kopiert, nie erreicht). Hier spielte er einen bürgerlichen Despoten gleichen Formats. Bei den Karamasoffs hätte er Blut von seinem Blut gegeben. Eine „DoppeI“-Rolle, die für den Dostojewski-Kenner tiefste Berechtigung gehabt hätte. So findet er (wieder einmal) keinen Partner und spielt den Dimitri solistisch ins Leere; (zum Glück nicht in einem leeren und hohlen Tiraden-Film).
Ein Dimitri-Kortner geht den kleinen „Passionsweg der sündigen Leidenschaft“. Typisierte Handlung fast.
Offizier, der einer schönen Dirne verfällt, um ihretwillen den eigenen Vater töten will (ein anderer erschlägt ihn in Wirklichkeit) – im Rausch mit der Geliebten wird Dimitri verhaftet, dann unschuldig verurteilt, und zieht mit ihr nach Sibirien.
Die dramatische Zeichnung der Neben-Figuren (im Manuskript), ihre innere Verknüpfung mit den Ereignissen gelang aber nicht, Leonhard Frank hätte aus dem „Karl und Anna“-Film, den er zu Unrecht schmälte, Film-Gestaltung studieren sollen. Es geht nicht mit der losen Episodentechnik, die dann nur film-dramaturgisches Syndetikon eines kunstvollen Regisseurs Zusammenhält – und hier die Kraft Kortners.
★
Der Solist Kortner: er gibt diesem Dimitri die Leibhaftigkeit des Dostoiewskischen Urbildes, den zwiespältigen Charakter, das Zügellose neben dem Zarten. Freilich läßt ihm die Rolle nur Andeutungen zu. Die Scheu vor dem Dialog, vor der Aussprache im Sprechfilm wird hier zum Fehler. Er hat dabei geniale Augenblicke, ein Ruf nach Gruschenka, sehr stark ein paar aggressive Gesten, wie er um den alten Grigori schleicht, verzichtend auf den Vatermord und vieles noch.
Gruschenka: Anna Sten. Als Anblick bezaubernd, in herrlichsten Großporträts festgehalten, aber ihr Deutschsprechen ist noch ohne Funken, kalt, fremd. Der Dialogleiter Erich Engel hielt mit Geschmack alle Sprach -Unfälle aus dem Film, und das wird schon viel Arbeit gewesen sein.
Hanna Waag, Bernhard Minetti, Liese Neumann stehen im Ensemble vollwertig an ihrem Platz. Dr. Max Pohl – nach Kräften die allzu karge Rolle des Familien-Hauptes vom Geschlecht der Karamasoff füllend.
Fritz Rasp – der Virtuose unter den Bösen, sprengt das Kino-Haus mit den Wahnsinnsschreien des Epileptikers.
★
Fedor Ozep wandelt das Drama zu Wandel-Bildern. Menschen und Räume – meist mit glücklichster Hand – man betrachte die Darstellung seines Geschworenen-Kollegiums, Friedl Behn-Grund folgt ihm unermüdlich mit überbewußter Kamera. Birkhofer gibt meist vollbefriedigenden Ton – – Heinrich Richter und Victor Trivas sorgten für die Milieu-Malerei der Inszenierung. Dem Produktionsleiter (E. Tuscherer) wird erneut Studium der Film-Dramaturgie dringend empfohlen, das Terra-Kollektiv unter seiner Leitung besteht auch in diesem Film-Fall aus einer Oligarchie strebender, niveaubewußter Schaffenden. Nur zielbewußt sind sie nicht, es treibt sie kein dramatischer Nerv. Sie treiben – Produktion. („Es“ treibt sie nicht).
Was bringt das Werk dem Publikum? Neben dem reizvollen Bilder-Fluß (das Bild der Anna Sten wird sich tief einprägen) . . . den Musik-Tumult, die Musik-Harmonie des Karol Rathaus (Musikalische Leitung: Kurt Schröder Erwähnung verdient vor allem die Montage von H. v. Parsavant).
Rathaus’ Musik gibt dem Film Wärme. Er sucht keine Effekte, sie stellen sich spontan seiner gebildeten, modernisierenden Feder.
Rathaus mag auf der Bühne Pech gehabt haben – in der nicht eben großen Schar der niveaubewußten dabei einfallsreichen Film-Illustratoren ist er ein ganz erheblicher Gewinn.
Man sagt, auch die Russenchöre, die mit einer naiven Orgienfreude das berühmte Karamasoffest zu Mokorje feiern, seien sein
Original-Werk. Dann hat er eine tiefe, mitreißende Zigeuner-Weise erfunden. Wie alles, was Musik in diesem Film heißt – – wundersam bereichert, doch nicht kitschig, nicht opernnah.
Man spürt da im Bund von Ton und Bild heißen Atem des Lebens. Aufruf, Aufruhr der Gefühle. Jedes Publikum hört sein Rußland dabei . . .
Sonst wendet sich der Film zu keiner menschlichen Tendenz, zu keinem moral-politischen Problem – und heißt doch nach einem Buch, auf dessen breiten Rücken, wie kaum sonst, eingebrannt steht das Fragezeichen nach Gott.