Originaltitel: M. (Eine Stadt sucht einen Mörder.) Kriminaldrama 1931; 117 min.; Regie: Fritz Lang; Darsteller: Peter Lorre, Gustaf Gründgens, Ellen Widmann, Fritz Odemar, Paul Kemp, Theo Lingen, Ernst Stahl-Nachbaur, Otto Wernicke, Theodor Loos, Georg John, Karl Platen, Rosa Valetti, Hertha von Walter, Inge Landgut; Nero-Tobis-Klangfilm.
Ein unfaßbarer Mörder versetzt Berlin in Schrecken, macht die Polizei nervös, die durch fortgesetzte Razzien, die Gauner und Verbrecher an ihren Geschäften hindert. Diese machen nun ihrerseits auf den Lustmörder Jagd, erwischen ihn, wollen ihn töten. In letzter Minute nimmt ihn die Polizei in Haft.
Zusammenfassung
Ein Mörder setzt die Bevölkerung von Berlin in den Zustand allgemeinen Schreckens. Eine Anzahl Kinder ist innerhalb kurzer Zeit ermordet worden, und immer wieder ereignen sich weitere Fälle, ohne daß es der Kriminalpolizei gelingt, des Mörders habhaft zu werden und der täglich drohenden Gefahr ein Ende zu bereiten.
Die Sorge der Eltern um das eigene Kind, die Erregtheit des Publikums findet mit jeder Mordtat neue Nahrung, steigt allmählich ins Fieberhafte. Wie eine düstere Wolke lagert das Grauen über einer ganzen Stadt und bedrückt die Gemüter. Was nützt es, wenn die Schulkinder vom Wachmann über die Straße geleitet werden und dann, sich selbst überlassen, die Straße weitergehen müssen, jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt. Angesprochen und entführt zu werden! Ein Apfel, ein Spielzeug genügt, um ein Kind ins Verderben zu locken! Unauffällig, unter den Augen des Publikums!
Aber jetzt, angesichts einer Kette von Mordtaten, ist die Allgemeinheit aufgerüttelt, die Polizei hat das Publikum zur Mitarbeit aufgerufen und wird nun täglich auf neue Spuren geleitet. Und nun entsteht das in solchen Fällen typische Bild der ständig wachsenden Verwirrung, denn die herrschende Angstpsychose der Bevölkerung sieht in dem harmlosesten Spaziergänger – den Mörder. Scheinbar sinnlose Selbstbezichtigungen mehren sich. Es gibt Menschen, die sich selbst als Täter bezeichnen, lediglich – um eine Freifahrt nach Berlin zu haben.
Die Polizei ist verpflichtet, jeder auch noch so unwahrscheinlichen Spur nachzugehen; ihre Arbeit wächst ins Ungeheure, die Akten der Mordfälle füllen nicht weniger als 60 dicke Bände – sie ist fast am Ende ihrer Kräfte. Der Mörder selbst schreibt Briefe an die Presse! Die Kriminalpolizei geht mit dem modernsten Rüstzeug der Kriminologie diesen Briefen zu Leibe. Daktyloskopie – Graphologie – alles scheint zu versagen. Bei einer entscheidenden Sitzung im Polizeipräsidium verfällt man da auf eine ganz neuartige Methode.
Es soll versucht werden, gewissermaßen von rückwärts an die Sache heranzukommen. Man sagt sich, daß dieser bestialische Mensch schon früher irgendwie mit den Behörden in Berührung gekommen, vielleicht auch schon in irgendeinem Krankenhaus gewesen sein muß, und läßt sich die Krankenberichte aller diesbezüglichen behördlichen Institute kommen. Damit gelingt es der Polizei, die Wohnung des Mörders ausfindig zu machen, trifft ihn aber – ein sinnloser Zufall – dort nicht an – und wartet auch umsonst auf seine Heimkehr. Denn – zu gleicher Zeit machte sich die Unterwelt Berlins auf die Suche nach dem Mörder keineswegs aus ethischen Gründen, sondern aus der nüchternen Erwägung heraus, daß sie in ihren Schlupfwinkeln nicht eher wieder einigermaßen zur Ruhe kommen wird, bis der Mensch, den die Polizei fieberhaft sucht, zur Strecke gebracht ist.
Um sich also die andauernde Kontrolle der Polizei vom Halse zu schaffen, macht sich die Unterwelt daran, den Mörder aufzuspüren – was ihr endlich auch gelingt. Der Mörder wird von den Verbrechern gefangengenommen, aber sie liefern ihn nicht der Polizei aus – sie stellen ihn vor ein Gericht, aus ihren eigenen Reihen, vor ein echtes Ganovengericht, das den Mörder nach den eigenen Gesetzen der Ganoven aburteilen soll.
Rechtzeitig gelingt es der Polizei, die von diesen Vorfällen unterrichtet wird, sowohl den Mörder als auch seine fragwürdigen Richter dingfest zu machen und den Langgesuchten der Gerechtigkeit zu überliefern.
Kritik (Hans Feld, Film Kurier #110, 05/12/1931):
Nach Schluß dieses ersten Tonfilms von Harbou-Lang stauten sich vor dem Ufa-Palast die Gruppen. Es erfolgte die Fortsetzung der bereits während der Vorführung spontan einsetzenden Diskussion für oder gegen die Todesstrafe.
Aus einer Anzahl von „Vorhängen“ wurde eine Unzahl. Und die Debatten auf der Straße gemahnten an die Zeiten politischer Hochspannung. Was war geschehen?
Dies ist der Anfang erst einer über das gewohnte Intensitätsmaß der Filmwirkung an sich herausgehenden Beeinflussung. Auseinandersetzung wird hineingetragen in Haus und Familie. Keiner kann sich dem Zwang entziehen.
Das Lichtspiel wird, endlich, zur Waffe im Kulturkampf.
Ein Stück vom Fragenkomplex der Zeit ward zum Zeitstück geformt.
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Dies ist der große deutsche Film des Fritz Lang.
Wie sein Antipode, der Schöpfer des Berg- und Naturfilms, Arnold Fanck, steht der Fritz Lang mit beiden Beinen auf der deutschen Erde.
Beide stoßen sie aus dem Kulturkreis ihres
Landes in die Weite der Welt vor; beide an Grenzen nicht gebunden eben weil sie ihre Einstellung nicht verleugnen, durch Konzessionen vertuschen. (Solches ohne jeden Rückhalt anzuerkennen, zu akzeptieren, hat auch der einem anderen Kulturkreis Entstammende Recht und Pflicht; als Gruß, von gleicher Höhe aus.)
Deutsche Filmleute, Leute, die am FILM schaffen; mit ihm und durch ihn. Ihr Rezept? Das ist wieder einmal hinterher aus dem gültig geformten Werk abzuleiten; Jawohl, man kann auch Dialog an Dialog reihen; und die Kamera darf die unstarre Haltung der stummen Schwester übernehmen.
Selbst das Atelier verliert seine Schrecken, wenn Kerle von der Vitalität des Kameradichters Fritz Arno Wagner, des Bau-Gestalters Emil Hasler ihm das letzte Odium von Technik nehmen –, durch eine virtuose Beherrschung der Mittel, die fast zur Zauberei wird.
Die souveräne Formung der Materie läßtt innerhalb der vier Studiowände die Außenwelt zu konzentriertem Leben erstehen.
„Fenster ins Freie . . .“, das ersehnen die Amerikaner aus der Enge ihrer Film-Theaterspiele. Fritz Lang hat es aufgerissen, und siehe, schön ist die Filmwelt.
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Zwischen der Klasse der Gannoven, jener am Rande der Gesellschaft existierenden und durch übernommene, selbstgeltende Verhaltungsregeln ihr zumindest äußerlich angeähnelten Schicht, sowie einer durch die Polizei organisierten Abwehr der gleichen Gesellschaft, zwischen diesen beiden Kreisen also gleitet die Bild- und Tonkamera hin und her.
Der Scheinwerfer beleuchtet den Grenzfall eines Mörders aus Zwang. (Gestern waren es Großmann, Haarmann: heut ist’s Kürten. Anomalien sind wohl quantitativ von der Struktur der Zeit bedingt –, auszurotten sind sie nicht.)
Hier schneiden sich die Kreise. Während die Polizei den Täter sucht, kommt der Staat im Staate, die bürgerliche Unterwelt, in Notwehrstellung; das Mütterliche in der Dirne revoltiert gegen den Kindermörder; indes das Heer der Beschützer und ebenso jenes der einem irregulären Beruf regulär Nachgehenden durch die ständigen Fahndungen irritiert wird.
Was der Polizei – Lang übt Courtoisie, das Leben ist gelegentlich härter – nach unendlicher Mühe gelingt, wird von den Ringvereinen zur gleichen Zeit vollbracht: Halali, auf den Mörder; Dingfestmachung, zwiefach Gericht. Zuerst vor dem Forum derer, die ihn als Außenseiter ablehnen; sodann Aburteilung durch die ordentlichen Gerichte. (Kirche und Unterwelt treffen sich: die Verantwortung für die Blutschuld wird dem Staat zugeschoben.)
Ist es ein Appell gegen die Todesstrafe?
Der Mörder, gestellt, schreit schließlich den Erbfluch heraus, unter Zwang seine Untaten begehen zu müssen. Die Frauen dagegen – und nicht nur die auf der Leinwand – fordern Unschädlichmachung durch Vernichtung.
Für oder gegen? Es kommt nicht darauf an; die Entscheidung muß jeder für sich treffen. Auch Shakespeare leiht Shylock den Menschenschrei „Wenn Ihr uns stecht –“, ohne daß die erdachte Monstrefigur dadurch sympathischer wird . . . oder lebensnäher.
(Unberührt davon bleibt: Ob es nicht besser ist Ursachen zu beseitigen, anstatt an Folgen herumzuarzten.)
Es ist eine Logik ohne Erbittlichkeit mit der vom Kino her die Stellungnahme zu einer Grundfrage der Gegenwart gefordert wird; das ist entscheidend.
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Watch your child,
paßt auf Eure Kinder auf, das ist eine der Nebenfragen, die etwa, mangels der sonst obligaten Liebeshandlung, der Formel flächenhafter Betrachtung nahe käme. In Wirklichkeit werden zwei Welten gebildert, so im Grunde gar nicht allzu verschieden sind. Ruh und Ordnung will halt ein jeder.
Die Buntheit solchen Milieus ist mit aller Lang-Jungensfreude am Spielerischen, mit Harbou-Humor für Lichter der Komik und herzerfreuende Redewendungen konterfeit.
Nie zuvor herrschte bei einem ernsten Werk soviel begründet heitere Stimmung. Das Leben, nach Punkten gezählt, bietet auch von unten gesehen viel des Lachens.
(Die nötige Bitterkeit schafft erst der Kontrast gegen das Oben. Das hat, überzeugend und unvergessen, Stanislawsky gestaltet, in seiner melodisch reichen Inszenierung von Gorkis „Aus der Tiefe“.)
Am Ende schließt, bei dem Vergleich, der Ringkonzern nicht einmal schlecht ab. Der große Manuskript-Dreh schafft ihm durch der Situationen Umkehr ein gegönntes Plus.
Dagegen hat auch der Polyp nichts einzuwenden. Von Bancroft filmpopulär gemacht, im Kriminaldeutschland längst als loyaljovial anerkannt, sieht er seine Belange auch im Film hervorragend gewahrt.
Mithin ist ein doppeltes Ehrenbürgerrecht fällig: Fritz Lang, Held zweier Welten.
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Dies ist eine Fritz-Lang-Produktion. Die gemeinsame Arbeit der Thea von Harbou mit Lang hat als Ergebnis restlose Einheitlichkeit der Stoff-Vernietung. Schaumannstum findet sich zu Kunstschaffen; die Gabe, spannend zu sein, wird mit ethischen Postulaten verbunden. Die liebenswürdige Unverbindlichkeit der Form steigert der Wert des Inhalts –; eine vollkommene Ehe.
Die Hauptinvestierung kommt dabei auf das Konto „Geist“ (im großen Film-Hauptbuch ansonst nicht sehr hoch saldiert.)
Für die Sujetwahl, Vorbedingung einer Massen-Wirkung hatten die Langs schon immer einen Flair. Nie waren sie Filmfremde, Volksfremde. Sie schauen den Leuten aufs Maul, sie wissen, wie der Mann in der Untergrundbahn, im Büro, in der Werkstatt, sich benimmt; sie wissen aber auch, was er sehen will. Das Publikum ist ihnen weder anonyme Menge noch Ausbeutungsobjekt.
Fritz Lang schafft bewußt für die Millionen der Kinobesucher. Produzent und Film-Gestalter in einem, formt er das Bild, wie er es sieht. Innerhalb der Gemeinschafts-Leistung ist er Anreger und Führer. Kein Filmstar, sondern ein Filmstalin.
Dies ist eine Fritz-Lang-Produktion.
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Das Wunderwerk des Drehbuchs ist bis ins letzte gefeilt. Nicht eine einzige Passage zuviel; dazu eine harmonische Verteilung dramaturgischer Effekte.
Der Zusammenklang von Ton und Sprache hat eine Verknappung zur Folge gehabt. Bildfolgen wie jene einer Mörderpsychose, oder die von der präzisen Arbeit des Erkennungsdienstes sind, im Rahmen des Ganzen, Sonder-Meisterreportagen.
Erster Grundeinfall, der Kolumbusei-Pfiff des Mörders; eine banale Grieg-Phrase, dynamisch abgestuft.
Mit Selbstverständlichkeit werden Bild und Ton getrennt Immer da, wo die Konformität gedoppelt – und in der Wirkung somit halbierend – wäre, tritt an Stelle der Gleichheit eine Illustrierung: Teichoskopie, die dem Wort plastischen Hintergrund leiht (Und erster, großzügiger Versuch, der Asyonchronität den Weg zu bereiten.)
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An 80 Schauspieler sind dabei und Figuranten echtester Prägung. Alle von Lang dirigiert prägnant eingesetzt.
Der Mörder: Peter Lorre; vor der Kamera in den Nuancen einer außergewöhnlichen Mimen-Kunst festgehalten. Ein Einzelner, durch das Monumentale der Umgebung nicht erdrückt, innerhalb des Gesamtwerks durchdringend, ans Menschlich-Ergreifende. Der Start, nicht weniger schwierig als reizvoll ist überraschend geglückt.
Als Gegenspieler von Format erweist sich allein Otto Wernicke, ebenfalls von Aufricht her bekannt. Seine naturalistische Vollkraft setzt sich im Film ebenso durch wie auf der Bühne. Gustaf Gründgens dagegen gibt Exaltation an Stelle der Wucht; ein Hochstapler mehr denn ein Schränker.
Unter den anderen, markante Sprecher, Fritz Gnaß, Fritz Odemar, Paul Kemp, Ernst Stahl-Nachbaur, Theodor Loos, Rudolf Blümner, Gerhard Bienert.
Ferner: Ellen Widmann, Georg John, Karl Platcn, Rosa Valetti, Hertha von Walther, Josef Almas, Carl Balhaus, Heinrich Gotho, Heinrich Gretler, Günther Hadank, Albert Hoermann, Paul Rehkopf, Leonhard Steckel.
Ein Massenaufgebot von Gesichtern und Gestalten, schauspielerische Fülle von keinem Filmlande in der Welt auch nur annähernd zu erreichen.
Die Techniker der Lang-Gemeinschaft:
Paul Falkenberg, der Cutter; Adolf Jansen, der Tonmeister. Beide von der ersten Garnitur der Tobis.
(Tonschnitt und Tondifferenzierung bei der Aufnahme sind heute kein Problem mehr; aber in solcher Vollkommenheit bleiben sie besondere Leistung.)
Straßen und Plätze, Laden, Wohnungen, Kaschemmen und Büros sind von Architekten Hasler und Vollbrecht gebaut. Was die Natur bildet, schaffen sie in Andrejews 3-Groschen-Stil neu; filmgetreu, voll gesteigerten Lebens. Kleinste Ausschnitte erhalten auf diese Weise realen Hintergrund.
In diesen Räumen herrscht die Kamera Fritz Arno Wagners. Mit Einstellung, die neuartig sind und doch ungesucht; mit einer Fülle subtilster Lichtwirkungen.
Die Atmosphäre der Schauplätze wechselt, in kleinsten Differenzierungen empfunden. Betonung zum Brillieren wird die Schaffensfreude und das Schaffenkönnen der Techniker zum wesentlichen Werkfaktor.
Es ist ein hohes Lied, der Film-Gemeinschaft, das sie erdachten.
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Ein deutscher Film, dem Weltstandard weit voran; ein neuer Rekord wird somit aufgestellt. Er ist, neben dem technischen Gipfelpunkt, bereichert durch das Dichterische.
Der Einzel fall eines Mörder- Außenseiters wird erweitert zu einem Aufriß der Umwelt. (Dies ist der Vorstoß, analog dem auf der Bühne von Brecht und Piscator unternommenen.)
Ein Fritz-Lang-Film, Dokument einer Filmzeit, in der zu leben sich verlohnt.