The Virtuous Sinner

Originaltitel: Der brave Sünder. Komödie 1931; 108 min.; Regie: Fritz Kortner; Darsteller: Max Pallenberg, Heinz Rühmann, Josefine Dora, Dolly Haas, Fritz Grünbaum, Peter Wolff, Rose Poindexter, Ekkehard Arendt, Louis Ralph; Allianz-Tobis-Klangfilm.

Ein Oberbuchhalter soll seinem Chef mit einer größeren Summe nachreisen, verspielt diese aber zum Großteil. Daß man seinen Verlust den Spielern wieder abnimmt und sein Vorgesetzter mit einem mehrfachen des Betrages durchgeht, rettet ihn vor der Schande. Er wird provisorischer Direktor.

Zusammenfassung
In einer österreichischen Kleinstadt. Der Oberkassierer Leopold Pichler, ein braver, rechtschaffener Mann von strengen Grundsätzen, hat einen ausgesprochen pechösen Tag. Ärger mit der Familie, verspätetes Eintreffen im Büro, was ihm in seiner zwanzigjähriger Dienstzeit noch nie widerfahren ist. Er wird zur Bank geschickt, dort – es ist Ultimo – Geld für die Gehälter zu beheben. Sein treuer Untergebener, der Tochter Pichlers in Liebe zugetan, begleitet ihn. Mißgeschick auch hier. Der Regen wird Ursache von Zwischenfällen auf der Straße, die abermals ein verspätetes Eintreffen Pichlers in seinem Amt, in der „Intrag“, zur Folge haben. Der Direktor der „Intrag“ hat sich höchst abfällig über dieses erneute Zuspätkommen ausgesprochen. Er ist nach Wien gefahren und Pichler, bedrückt von dem Unwillen des hohen Vorgesetzten und in höchster Sorge wegen des vielen Geldes, das er (es ist Sonnabend und die „Intrag“ schon geschlossen) nun bis Montag bei sich behalten müßte, beschließt, dem Direktor das Geld nach Wien nachzubringen. Mit dem treuen Wittek fährt er dorthin. Sie treffen den Direktor nicht in seinem Hotel, aber in dem Vergnügungslokal „Die Engelbar“ werden sie ihn, sagt der Hotelportier, bestimmt erreichen. Pichler und Wittek warten also in der „Engelbar“ auf den Direktor, man hält sie für dessen Gäste, wider Willen erleben sie eine „tolle Nacht” – und erwachen andern Tags im Schlafzimmer der Negerin Kiddy, des Tanz-Stars der „Engelbar“. Ein trauriges Erwachen, denn von dem Geld, das sie ihrem Direktor nach Wien bringen wollten, fehlt ein gutes Stück. Ein Schlepper lotst sie an den grünen Tisch eines obskuren Spielklubs. Dort gewinnen sie zwar, aber Spielmarken, und als sie ihren Gewinn einlösen wollen, ist der Kassierer des Klubs mit dem Gelde der beiden Opfer verschwunden. Sie wollen sich der Polizei stellen, aber das gelingt ihnen nicht. Pichler trifft die Vorbereitungen zum Selbstmord, er sieht keinen Ausweg. Wie der brave Sünder verhindert wird, seinen Entschluß auszuführen, wie das Geld doch in die Hände des Direktors gelangt und wie die braven Sünder durch ein gütiges Schicksal völlig entladet werden, das zeigt der Schlußteil des Films.

Kritik (Ernst Jäger, Film Kurier #249, 10/23/1931):
Unnötig, unverständlich spät (pardon, wir haben schon dreißig Jahre Film) . . . doch keinen Tag zu spät . . . mimt er da endlich, endlich oben von der Leinwand herunter, und wir müssen nun alle Augen doppelt weit aufsperren, eiligst wie der Herr provisorische Debütant und Defraudant seines reichen langen Bühnenlebens selbst – zusammenzufassen, was er für einen Film zusammenraffte, um sich zu beweisen.
Pallen-Berg in Flammen für den Tonfilm, bekehrter, braver Sünder an dem zu lange gemiedenen Film (als ob M. P. nicht eine herrliche pantomimische lautsprechende Stummrednerbegabung schon vor 10 Jahren gewesen wäre).
Auch der Kritiker, ehrlich, wird wieder mit zum Debutanten . . .
Das – mitgefilmte Lampenfieber Pallenbergs, das über seinem frisch wuchernden Anekdoten- und Pointenfilm wie köstliche Virage schimmert, ergreift auch den Betrachter – – denn dieser Filmnovize macht den ganzen deutschen Film wieder jung.
„Pallenberg im Film“ – das ist ein Programm kein einmaliges Gastspiel mit ★ ★ ★ Sternen, nicht irgendeines Komikers freundlicher Zufallsauftritt – – der mit-schöpferischste Schauspieler, der geistregste, einfallquellendste, der spielerisch-temperamentvollste, einer, der keine Rollen „übernimmt“ – sondern Rollen aufputscht zu Menschen, zu Phantasien, zu ernsthaften Albernheiten, zum Kindlichen, zum Traum-Närrischen, zum Stock-Irdischen – – beginnt zu tonfilmen.
(Die Glocken der Gedächtniskirche läuteten laut und vernehmlich zehn Minuten lang in die Premiere.) Die Glocken müssen recht behalten.

Ein filmhistorisches Debüt. Wir werden ab dato einen charaktervolleren deutschen Film erhalten. Weil dieser Pallenberg nicht Rollen spielt, sondern Rollen schafft. Er wird nicht ruhen. (Er wird noch ganz aus den Theaterschalen schlüpfen.)

Sein letzter Theater-Auftritt in der Volksbühne: mit Alfred Polgars lauem, weich profilierten Theaterstück „Defraudanten“ kein bewegendes Ereignis. Ganz anders in der Filmzone (mit dem gleichen Sujet; wie aber im Sprechfilm zu prinzipieller Bedeutung gelangt!).
Polgar und Pallenberg bereichern den Dialogfilm; – weil sie ihn mit Wort-Sinn beschweren (er kann’s vertragen), mit Aphorismen, Glossen, zarten und groben Anmerkungen. die ins nicht verwöhnte Kinoohr dringen. (Ohr erwache, Schlagerblödheit verrecke, nieder mit der Schwankproduktion.)
Der innere Erfolg des Polgar-Pallenberg-Werkes (abwarten; Fritz Kortner erhält sein besonderes Kapitel) liegt im Zutrauen, das man dem Hörer schenkt.
Der Kinohörer muß sich von 1000 Pallenberg-Pointen. immer doppelsinnig verspielt, erschießen lassen. Kein Widerstand!
Er serviert sich in sämtlichen Bühnennuancen, er verdreht die Worte, verhaspelt die Sätze, verwirrt die Gespräche, wie’s seit dem seligen Zawadil Brauch, er prustet sich, er duckt sich, sendet Witze wie Raketen (die auch mal verpuffen können) – und gibt da ein paar Sätzchen von sich, die wie Scheinwerfer den kleinen Umkreis seiner Menschen beleuchten . . wenn der entfesselte Bankbeamte feststellt: „Wo wir sind, ist Büro.“ Klassischer Wortraffer Pallenberg; er blitzt mit einem Satz in viele Lebensklüfte, er packt mit einem Witz sein Dasein aus.
Solchen Pallenberg-Reiz gewann sich der Film: dieses einmalige Wortgenie, diesen Sprach-Artisten.

Es sind die Worte A. Polgars, die er spielt. (Nach dessen schwachem Bühnenstück.) In der Filmbearbeitung hat sich Polgar samt seinem Kompagnon Fritz Kortner noch mehr von Katajews Roman-Vorlage entfernt, distanziert auch vom Bühnenstück. So blieb allein die Paraphrase übrig, eine Illustrations-Aufgabe, ein Glossarium; ein überfülliger Pallenberg-Monolog – durch diese hohle Gasse muß er.
Die Autoren handeln nicht, sie behandeln, stellen Milieu und Vorgang nebeneinander hin, sie entwickeln nicht, sie treiben nicht auf. . . . Die entzückendsten Anekdoten bilden sich nacheinander ab, – und hier rächt sich, daß Polgar und Pallenberg jetzt erst filmisch sehen lernen – sie suchen noch, sie übersehen die filmisch-dramatische Grundlinie. Film ist sichtbare Fabel, der Faden heiterer Parzen spinnt sich augenmerkbar („offensichtlich“) ab. Film verlangt Scharf-Sicht. (Hm, hm.) Polgar-Kortner fabeln nicht, sie kommentieren (nicht einmal immer deutlich; wie in der ganz verrutschten Spielbankszene); sie umschreiben. (Sie schreiben um Fallenberg; außen herum.)

Die besten Filme der Weltproduktion sind auf eine kurze Weisheit zu bringen – durch jeden Chaplin-Film, ja jede Chaplin-Episode leuchtet eine ewige Sentenz; auch der Oberkassierer Pichler prudelt viele Aphorismen vor sich her . . . sogar zum Schluß hängt ihm eine mild klingende Polgarironie zum lustigen Munde heraus. Doch seine Geschichte schillert widerspruchsvoll, vieldeutig.
Sie drücken ihm als geheiligtes, unentbehrliches Requisit, an dem sich die filmliterarische Burleske entzünden kann: die Geldtasche mit 8000 Schillingscheinen in die Hand. Die Komödie der Tücken und Zufälle kann sich entfalten. Ueberwältigend komische Einzelheiten: der vermeintliche Raubmörder trägt dem Oberkassierer die Tasche zum Eisenbahnabteil nach: Pallenberg gerät unter die Tscherkessen-Messertänzer, wie er die lasche retten will. Zwei äußerlich brillante Autoren-Effekte.
Im Vergleich zu allen anderen deutschen Erheiterungsfilmen: spontanste Lust am Fabulieren (doch nicht – siehe oben – an der „Fabel“); amüsanteste Kurzfilmepisoden: ein Leierkastenmann erhält versehentlich das ganze Kleingeld der Familie. Die Ironie unnötiger Furcht, die Angstpsychose der Defraudanten, die stets ins Happy end umschlägt, verdeutlicht die Vagabundenscene am klarsten. Sonst – – sprühende Anekdote an Anekdote: Requisit und Stichwort für Pallenberg, ob Chef, ob Kompagnon. Ob Negermädel („Afrika spricht“ – muß er natürlich dazu sagen), ob Hausfrau, Tochter, Hochzeiter, Gendarm.

Auch der Regie-Debutant Fritz Kortner tastet noch, experimentiert in übernervösem Stil, jedoch aus Ausdrucksfülle. nicht aus Unsicherheit. Welche Nervenanstrengung, sich als Regisseur durchzusetzen, wo eine so aktive Kraft wie Pallenberg allein im Vordergrund.
Gewiß; er macht Anleihen, man weist ihm Chaplins Spiegel nach, René Clairs Kopie der tragikomischen Objekte, russische Ornamentssymbolik, Avantgarde-Imitationen . . . aber wer darf die Hohe Schule der Film-Artistik, Gemeingut aller, nicht nutzen? Das Originale überwiegt jedoch bei weitem: einmal findet er für Pallenberg aesthetischen Milieustil des Films (vorteilhaft, anders als in den Dutzendpossen des Films, aber auch eigenwilliger als etwa in der Joe-May-Linie).
Dann aber besticht die Polyphonie seiner Inszenierung, er haßt das dürftige Versimpeln der Dialoge, er gliedert, kontrastiert. überschneidet Aussprachen vorbildlich. Die Kamera überlegt und lebendig (Günther Krampff), viel Lichtwirkungen. Schwarz-Weiß-Effekte, der Ton hat seine Sonder-Rolle, Musik mit Vorsicht motiviert, Bild-Montage wieder in hohen Ehren, eine Trunkenheitsszene mit schwebenden Putten, das Traumerlebnis (Pallenberg fällt vom Kirchturm auf die Eisenbahnschiene, D-Zug-Masken überfahren ihn –  „es ist schade um mich.“) beweist Kortners Erweiterungswillen des allzu erstarrten Filmnaturalismus. Kortner alles andere als ein dem Theater entlaufener Bühnenmann. Ein besonderes Filmtemperament. Spart nicht an sich, er gibt mehr als andere in jeder Szene. Er muß beim Film bleiben. Seine Regie-Intelligenz ist zu nutzen.
– dabei das meist versprechende seiner ersten Leistung: Pallenberg, der Star, steht vor allem; mit Regieprominenz ist da nicht zu protzen. Wie stark muß Kortner in optischen und akustischen Visionen beheimatet sein, wenn er so entscheidend Niveau und Richtung des Films bestimmt. (Und ein witzig-knallig gesetzter Amtsstempel als Szenenpointe malt bei ihm eine ganze Welt aus.)
Mit einem Satz schiebt er seinen Regiesitz zu den Plätzen der Besten.

Pallenberg über allen. Die anderen (Heinz Rühmann, Dolly Haas, Fritz Grünbaum, Rose Pointexter) sympathisch um ihn herum. Er flüstert sie an, klettert wie ein Affe über sie, schreit, knutscht, beschwört sie, mit Worten und Gesten – ausschüttend, überschüttend – (man lampenfiebert mit; ein neues Debüt besonderer, einmaliger Schauspielkunst im deutschen Tonfilm).
Er improvisiert aus den Tiefen seiner Spielkunst die rührende, lächerliche Naivität des kleinen Menschen hervor. Er spielt in jeder Sekunde für fünf Pallenberge auf einmal. So ist er dabei (so soll er dabei bleiben).
Freuen wir uns seiner Verschwendungs-Kunst.

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