Originaltitel: Der Mann, der den Mord beging. (Nächte am Bosporus.) Kammerspiel 1931; 88 min.; Regie: Curtis Bernhardt; Darsteller: Conrad Veidt, Heinrich George, Trude von Molo, Friedl Haerlin, Gregori Chmara, Friedrich Kayßler; Terra-Tobis-Klangfilm.
Konstantinopel 1912. Ein englischer Lord, einflußreich aber brutal, tyranisiert seine Frau, die um ihres Kindes willen bei ihm ausharrt. Als er ihr ein schriftliches Ehebruchsgeständnis erpreßt, erschießt ihn ein französischer Oberst, der sie liebt, nimmt den Mordverdacht von einem Unschuldigen und verläßt das Land.
Zusammenfassung
Heute ist der Marquis de Sévigné, der neue französische Instrukteur bei der türkischen Armee, in Konstantinopel angekommen. Und noch ehe seine Wohnung in Pera eingerichtet ist, lassen sich zwei Besucher bei ihm melden: Lord Edward Falkland und Fürst Sianislaus Cernuwicz. – Der Russe, Gesandtschaftsattaché, vital und liebenswürdig, plaudert über Literatur. Der andere ist der englische Direktor der ottomanischen Staatsschuldenverwandlung. Er ist breit und kraftvoll und spricht von den Burenkriegen. – Am Nachmittag erfährt Sévigné von seinem einzigen türkischen Freunde, dem Polizeiminister Mehmed Pascha, näheres über seine seltsamen Besucher. Ja, der Engländer ist in überaus mächtiger Position, man muß sich in acht nehmen vor ihm. Übrigens ist er verheiratet, hat einen kleinen Jungen und eine Frau, die er nicht liebt . . . – Diese Frau lernt Sévigné im Sommerpalast kennen. Irgend etwas zieht ihn hin zu ihr. Sie sitzen zusammen auf der Terrasse. Musik dringt aus dem Saal. Die Frau spricht von ihrem Kind, das sie so liebt. Sévigné will den Jungen gern sehen. Ob er sie vielleicht einmal besuchen darf? Ja, gewiß, er darf sie besuchen – schon am nächsten Tage läßt er sich im Hause Falkland der Dame des Hauses melden, aber eine andere Frau empfängt ihn. Lady Edith, Kusine des Hausherrn. Erst später kommt Lady Falkland, erstaunt, daß man ihr den Marquis nicht gemeldet hat. Sévigné versteht: in diesem Hause herrscht Lady Edith uneingeschränkt. – Zuweilen sieht er jetzt Lady Falkland. Diesmal führt sie ihn durch die Gassen von Istanbul, dann zeigt sie ihm die Burgen und Paläste, die alten Friedhöfe und die Moscheen. Da fragt er sie eines Tages, warum sie sich nicht scheiden lässt. Lady Falkland lächelt müde. Nein, das ginge nicht, man würde ihr das Kind nehmen. Falkland ist mächtig, und er würde seinen einzigen Erben niemals hergeben! „Aber man kann Ihnen doch das Kind nicht nehmen!“ Doch, aber man würde ihr das Kind nehmen, sagt Lady Falkland. Er drängt sich weiter, aber er fühlt, daß es ein Geheimnis um Lady Falkland gibt. – Im Hotel sieht Sévigné den Engländer und den Fürsten Cernuwicz wieder, die beiden unzertrennlichen Freunde. Er schließt sich ihnen an, er will wissen, zu welcher Sorte Menschen sie gehören. Sie gehen in ein Bordell. Der Engländer sucht sich ein Mädel, der Russe trinkt. Man muß Lady Falkland helfen, denkt Sévigné. Aber wie? Nun sitzt er bei Exzellenz Mehmed Pascha. Der weiß auch keinen Rat. „Ich warne Sie!“ sagt er nur. „Hüten Sie sich vor Lord Falkland!“ – Da bekommt Sévigné die Nachricht, daß Lady Falkland ihn dringend zu sprechen wünsche. Er eilt zum Treffpunkt und findet die Frau fassungslos. Sie erzählt, daß sie sich mit Lady Edith geschlagen habe, wegen des Kindes. Sie sei aus dem Hause gezogen und wohne jetzt im Pavillon am Ufer. Er sei ihr einziger Freund, er müsse ihr helfen! Sévigné beruhigt sie. Er werde ihr immer helfen. Nichts werde ihr geschehen, solange er da sei. Er nimmt sie in seine Arme, da stößt sie ihn zurück. Er wisse ja nicht . . . Was denn? Cernuwicz . . . – Sie läuft fort. Sévigné ist allein. Wie war das? Cernuwicz? Der Russe? – – – in dieser Nacht schlagen die Doggen des Lord Falkland an. Im Pavillon brennt Licht. Lady Falkland hat geschrien. Der Lord eilt hinüber und bricht die Tür auf. Er findet seine Frau und – den Fürsten Cernuwicz. Da lächelt er, das genügt ihm. Der Russe bestreitet alles, aber Lady Falkland gesteht: Ja, sie hat die Ehe gebrochen. Einmal früher. Als ihr das widerliche Treiben des Lords und seiner Kusine unerträglich war. Als sie glaubte, in dem Fürsten einen Freund und Beschützer gefunden zu haben! – Jetzt muß sie unterschreiben, daß sie auf das Kind verzichtet. Sie wehrt sich, sie schreit. Aber niemand hört sie. Doch, einer hört sie: der Marquis de Sévigné! – Falkland erpreßt die Unterschrift von seiner Frau. Jetzt wird er geschieden werden, und das Kind wird bei ihm bleiben. Als die Sonne sich über den Kuppeln und Minarets von Konstantinopel hebt, steigt er in den Wagen, um in die Stadt zum Advokaten zu fahren. Drei Stunden später wird er auf der Landstraße ermordet aufgefunden! – Der Verdacht fällt auf den Fürsten Cernuwicz. Im diplomatischen Club spricht man von einer Verhaftung. Ein Mann sitzt an einem Tisch und hört ruhig zu. Sévigné. – Der Polizeiminister setzt sich zu ihm. Da zieht Sévigné aus der Tasche das große rote Portefeuille des Ermordeten. Er hat den Engländer getötet. Der Polizeiminister Mehmed Pascha hat vom Sultan absolute Vollmacht in dieser Angelegenheit. – „Der Mann, der den Mord beging, ist ein Gerechter!“ – Er gibt Sévigné die Hand. Zum letzten Mal. „Sie verlassen sofort die Türkei. Marquis – für immer!“ Sévigné nickt. – Die Frau, die er liebt, wird er nicht wiedersehen.
Kritik (E. J., Film Kurier #020, 01/24/1931):
Die neue Terra startet: Einen Film des künstlerischen Prestiges, Qualitätsschaffen, das das neue Gesicht, die neuen Ziele dieser Produktion umschreibt. Die Terra-Marke, durch Curtis Melnitz mit dem künstlerischen Geist Hollywoods verbunden, durch die Herren Scotoni in einem blickfreien, zielklaren Film kaufmannstum wurzelnd, erhält neuen Inhalt, neue Prägung. Der Erfolg, unter so guten Zeichen begonnen, kann nicht ausbleiben.
Man zählt – nicht eingerechnet den Roman-Autor, den Stück-Verfasser – genau 12 (zwölf), ein gutes Dutzend Kneter, Former, Lenker, des Stoffes vom rohen Mann, der zarten Frau, dem Edelfreund am Bosporus.
Eine Gruppe bekennt sich also zur Arbeit, ein Kollektiv; allen gemeinsam: dem Eugen Tuscherer, Kurt Bernhardt, Carl Mayer – – sie „wollen“ etwas, haben Ansprüche; inszenieren auf der „United Artists“-Linie. Niveau-Bühne, literarische Haltung, erhöhte Kassenpreise, Abendanzug Vorschrift.
Kammerspiel des Films – szenisch außerordentlich bereichert.
★
Drei Kreuze über das Buch Claude Farrères, es war einmal . . . („es war“ . . . nicht einmal). Ein Ermordeter ist schuldig.
Drei Ausrufungszeichen hinter das Autoren-Kollektiv! Goldberg, Kosterlitz, Kahn. Ueber ein Nichts von Geschehen, und Situationenarmut konstruieren sie eine kleine Welt. Konstruieren, komponieren, basteln vier, fünf Menschen, die des Orients verzaubernde Atmosphäre beinahe lebendig macht.
Darauf kam es Kurt Bernhard an – mit Carl Mayer – beide sind die zentralen Triebkräfte des Films! Atmosphäre zu bilden. Sie entwickeln sie aus deutlich abgestecktem Milieu und kleinen „Zwischenlieu“. Der Europäer 1912 im Orient.
Vor Umwelt-Hintergründen – – Menschen-Umrisse.
So wird es gesehen: Die Kamera Curt Courants sammelt Sonne, Landschaft und Stadtsilhouetten am Bosporus; die Architekten H. Warm und A. Richter bauen gediegenste, verschwenderische Wohnstätten der reichen Gesellschaft, ergänzen die Natur durch natürlichste Dekor-Phantasien. Erstaunliche Arbeit des Kollektivs: wie sie ins Dramentechnische jedes Milieu-Detail berechnend einbeziehn. Daran erweist sich die neue Terra-Qualität: Die tiefgehende filmische Einfühlung, die sich darauf nicht beschränken darf, eine lockere Kamera bluffend zu schwenken, sondern ins Kalkül einzusetzen, worüber sie sich bewegt. Die Erde dreht sich – nicht die Kamera.
Man kann hier von dramatischen, d. h. aktiv ein wirkenden Milieu-Reizen sprechen; seit der stummen „Nina Petrowna“ hat man diese Bewußtheit der Umwelt-Mobilisierung nicht so stark verspürt. Nicht der äußerliche Reiz ist damit gemeint, das Auge weitet sich ja endlich wieder, vor soviel Sonne, dem Meer, den Moscheen, den Uferpalästen, . . . . aus Atelierenge befreit – und selbst das „Atelier“ (das ist es ja gerade!) wird Lebensraum, nicht hingestellte Kulisse.
Diesen Film-Verantwortlichen ist ein besonderer Sinn für das Schau-Bild eigen. Bernhardt und Mayer, mit Courant vor allem, stützen sich dabei ideal.
Welche Auflösungskunst in Naturimpressionen. Etwa: verstaubte Landstraße mit eiligem Auto, Staub, Staub vor Bäumen und Hecken – – welches undurchsichtige Ereignis verhängt es?
Oder: nachts rudert einer übers Meer hin, zwei Lichtsplitter auf der dunklen Wasserfläche . . . Ist das der alte, junge Einfallsdichter C. M.? Vor schwarzem Meerestuch ein Ausruhreflex . . . eine Bildgedichtzeile.
Neben solchen Ueberfeinheiten – Plastisches, Gröberes: die Kamera enthüllt Tanzparkett, nackte Akrobatin, Spielklub, Diplomaten am Verhandlungstisch, am kalten Büfett.
Eine Frau weint einsam in die Garten-Nacht.
Ein Liebhaber wartet in der Bettlergasse. Man könnte hundert Motive aufzählen. So viel Erfindung steckt darin. So viel rhythmisierte Um-Welt.
Diese optischen Milieu-Erweckungen, die gelangen, werden hier so stark unterstrichen, damit sie die auf Carl Mayers sichtbare Betätigung gespannte Kunstwelt wieder schmecken und schätzen lernt.
Wir wissen: für den dramatischen Erfolg ist diese Illusionsschaffung nicht ausschlaggebend. Sie bezeugt nur den Geschmack der Schöpfer.
Ueberdies: manche Einfälle, so die Manier für hineingehängte Großaufnahmen, sind l’art pour l’art: Geistreichseinwollen. Film-Literatur „sorgfältig gedehnt“ –: vom Fluch der Langenweile keineswegs verschont. So richtig die optische Führung des Films ist und die Anpassung der Dialoge in den optischen Fluß. Dieser stockt recht oft, steht zu lange. Das nächste Mal noch einen Cutter verpflichten! Pausen sind notwendig, aber keine „Löcher“ im Film.
★
Das Manko der Dramaturgie: die dramatische Linie und die Sprache der Dialoge. Auch die Schwache Bernhardts (sobald schwächere Schauspielerkräfte vor dem Mikrophon).
Gewiß – der „Effekt“ will hier bewußt abgebogen werden.
Keine Morddarstellung, kein Happy end mit Liebesabschied, kein Mutter- und Kind-Glück zum Schluß . . und doch bleibt die Führung zum Ende allzu blaß und blutarm, sackt ab namentlich nach den saftigen Farben einer Bordellszene, vorher der lang ausgespielte Kellnerkrach eines betrunkenen Russen, der in seiner Episode breiter ausgeführt wird, als der durch viel Nebenbei nur charakterisierte Mann, der zu morden ist. Da bröckelts bedenklich, bleibts Fragment.
Die Dialoge vielfach auf Draht gezogen. Namentlich die entscheidenden Szenen im Hause Falklands. Regiedeutsch mit Bühnennachdruck vorgebracht. Mayer wie Bernhardt kommen da nicht ganz zu recht. Sie überzeugen nicht, selbst wenn sie den Gesellschaftsstil anno 1912 so verschroben bringen wollten.
Das Anfängertum der Trude von Molo hemmt auch. Gewiß – sie wird in verhaltene „undankbare“ Situationen gestellt. Keine „großen“ Leidenschaften, Verstrickungen, die sich ohne Donner einspielen; selbst ihr Ehebruch-Geständnis – keine rollende Szene, kein Theater. Es kommt also auf Nüancen, auf Vierteltöne an – und die kann die Debütantin lebhaft vorerst nur in Kleiderfragen bekunden.
Reizvoll anzusehen – ja; im Spiel recht frei, im Sprechen kaum theaterschulfertig. Wie gehemmt in den Kinderszenen! Hier liegt ein Talent, wenn es überhaupt mehr als durchschnittlich sein soll, heute noch ganz gebunden. Trotzdem: besser so eine halbe Nachwuchshoffnung als eine ganze Starniete.
Die Männer: Veidt, George, Chmara. Veidt, wie der ganze Film – anzuschauen ein fesselndes Vergnügen; er ist eben rein mimisch ein Könner, doch beeinträchtigt die Monotonie seines Sprechens. Er wirkt zu sehr als biederer Seelen-Sanitäter. Der Herr von 40 Jahren, der kaum die Stimme heben darf. Warum das?
Gregor Chmara: eine erfreuliche Ueberraschung. Hat eine Schauspieler-Chance und nutzt sie. Der verbummelte Lebemann. Packender Naturalismus in einer glänzend durchgeführten Nachtlokalszene.
Heinrich George: ganz auf brutalen Typ gesammelt. Ein grober Kontrast zu der beabsichtigten Spiel-Feinheit. Angelegt auf den eindeutigsten Galerie-Erfolg.
Mit Erich Ponto riskiert der Regisseur leicht ironische Diplomaten-Kritik. Ein Komödien-Einfall. Ponto gibt gleich in wenigen Film-Szenen Originelles. Ein sehr guter Besetzungsgriff. Von Friedl Haerlin kann man’s weniger sagen. Dagegen Friedrich Kayssler: diesmal mit Allah – in jedem Wort ein Mann. Ein paar lustige Sätze: Hans Joachim Moebis. Auffallend: das „Mädel aus Agram“.
Der vom Publikum gern bestätigte Kindererfolg kommt von dem folgsamen kleinen Rolf Drucker her.
★
Folgsam auch: Ton und Musik – Dr. Goldbaum (Klangfilm-System) und Hans J. Salter.
Für alle Werte des Films bekundete das Uraufführungs-Publikum durch herzlichsten Beifall vollem Verständnis.
Das so im ersten Feuer erprobte Urheber-Ensemble bleibe erhalten – und verpflichte sich noch einen dreizehnten Mann, der einen literarischen Mord nicht scheut, einen ruppigen Dramatiker, der das Leben von der blutigen, nicht von der ästhetischen Seite nimmt. So hat es Zukunft.